Eine Frau und ein Mann versuchen am Laptop, mit verbundenen Augen online ein Sofa zu bestellen.

Methoden und Wissen

Von digitaler Barrierefreiheit profitieren alle Menschen – und trotzdem wird sie immer noch zu wenig umgesetzt

30. September 2025 / Annekathrin Gut

Mit schwarzen Masken über den Augen machen sich Stefanie und Martin daran, auf der Website eines skandinavischen Möbelhauses ein Schlafsofa zu kaufen. Wie navigiert man im Internet, wenn man nichts sieht? Im Versuchsaufbau zum Thema digitale Barrierefreiheit bei der HEC versetzen sich die beiden Testpersonen in die Situation von sehbehinderten Menschen.

Die HEC Expert:innen für digitale Barrierefreiheit, Charlene Walther und Daniel Gehrke, haben an der Augen-Station immerhin schon die Sprachausgabe eingeschaltet. Die digitale Stimme liest monoton jeden Menüpunkt einzeln vor. Stefanie und Martin versuchen, mit Tabulator- und Enter-Taste in die Produktkategorie „Schlafzimmer“ vorzudringen. „Erfordert Eingabe“, mahnt die Digitalstimme. Stefanie seufzt: „Ist das nervig.“

Jede:n kann es treffen

Augen, Ohren und Motorik: An drei Stationen simulieren Charlene und Daniel wie es sich anfühlt, sich mit Handicaps im digitalen Raum zu bewegen. Beiden ist wichtig zu betonen, dass jede:r von uns irgendwann eine dauerhafte oder zeitweise Behinderung erleiden könnte. Letzteres hat jede Person schon einmal erlebt, die sich zum Beispiel den Arm gebrochen hat oder deren Brille kaputt gegangen ist.

In Deutschland haben 12,6 Prozent eine anerkannte Behinderung, das sind 10,3 Millionen Menschen. 86 Prozent der Behinderungen wurden erst im Laufe des Lebens durch Krankheit oder Unfall erworben. Zusätzlich sind 30 Prozent der Menschen in Deutschland Nicht-Muttersprachler:innen, haben eine Sehschwäche oder andere Einschränkungen, die im Digitalen für Schwierigkeiten sorgen.

„Und hundert Prozent aller Menschen profitieren von einer leichteren Bedienung und sicheren Anwendungen durch Maßnahmen zur digitalen Barrierefreiheit“, unterstreicht Daniel, dass das Thema uns alle angeht.

Eine Frau und ein Mann versuchen, mit verbundenen Augen am Laptop online ein Sofa zu bestellen.
Stefanie und Martin versuchen, mit verbundenen Augen online ein Sofa zu bestellen. Daniel gibt praktische Tipps.

Mühsames Klicken durch die Sprachausgabe

Zurück zur Augen-Station: Unermüdlich liest die Sprachausgabe vor: „Produktregisterkarte eins von sechs ausgewählt“. Jetzt müssen sich Stefanie und Martin nacheinander durch jede Kategorie klicken.

Auf einmal liest die Stimme jeden Buchstaben einzeln vor. Und jeder muss angeklickt werden, um weiterzukommen. Frustriert stellen die beiden Testpersonen fest: „Diese Seite ist für Sehbehinderte nicht barrierefrei – und das bei einem Unternehmen, das doch angeblich viel dafür tut!“

Wie geht digitale Barrierefreiheit?

Barrierefreiheit bedeutet, digitale Lösungen für alle Menschen anwendbar zu gestalten – auch wenn bestimmte Fähigkeiten eingeschränkt sind. Dazu gehören Sicht, Gehör, motorische Fähigkeiten und kognitive Wahrnehmung.

Dafür gibt es internationale Standards, die in den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG 2.2) beschrieben werden. Die vier grundlegenden Prinzipien legen die Wahrnehmbarkeit, Bedienbarkeit, Verständlichkeit und Robustheit der Anwendung fest. Zusätzlich gibt es drei „Stärkegrade“ – Konformitätsstufen von A (absolutes Minimum), über AA (gesetzliches Minimum) bis AAA (über BITV 2.0 gefordert) für die öffentliche Verwaltung.

Video für die Ohren

Martin und Stefanie probieren außerdem, an der Ohren-Station den Inhalt eines Videos zu erfassen, ohne hören zu können. Bei YouTube finden sie ganz schnell die integrierte Funktion für Untertitel. Beim englischsprachigen Lehrvideo einer Universität ist das nur über ein kompliziertes Hochladen in ein anderes Tool möglich. Das Ergebnis ist ein Text in kaum verständlichem Kauderwelsch.

Auch die Buchung einer Reise nach Rumänien über ein großes Touristik-Portal sorgt für Frust. „Wir haben den Ort eingeben können“, sagt Stefanie. „Aber beim Datum werden wir immer wieder rausgeschmissen.“ Hier dürfen die Testpersonen nämlich nur die Tastatur benutzen und keine Maus oder das Touchpad, um motorische Einschränkungen zu verdeutlichen.

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Charlene Walther erklärt Workshop-Teilnehmenden am Laptop, wie sich digitale Barrierefreiheit umsetzen lässt.
Charlene Walther erklärt Workshop-Teilnehmenden, wie sich digitale Barrierefreiheit umsetzen lässt.

Wer muss digitale Barrierefreiheit umsetzen?

Seit Juni 2025 gilt das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) für den privaten Sektor. Mindestens die Konformitätsstufe AA muss bei der Erstellung von Websites und Online-Portalen, aber auch Benutzeroberflächen an Fahrkartenautomaten oder Terminvergaben berücksichtigt werden.  Unternehmen, die das nicht beachten, drohen 100.000 Euro Strafe.

Bislang gilt das Gesetz nur für B2C-Unternehmen. „Darauf würde ich mich aber nicht ausruhen“, rät Charlene. „Erfahrungsgemäß werden solche Anforderungen früher oder später auch auf B2B ausgeweitet.“

Von Barrierefreiheit profitieren alle

Wie war es denn? „Ich habe mich hilflos gefühlt“, berichtet Stefanie. Es habe aber auch Erfolgserlebnisse gegeben, sagt Martin: „Wir haben mehrere Lösungen gefunden, um einem Video Untertitel hinzuzufügen. Es gibt in Windows eine ganze Menge Einstellungen für Barrierefreiheit.“ Eine weitere Erkenntnis: Für ein inklusives Design von Anwendungen empfiehlt es sich, von Anfang an mit Betroffenen zusammenzuarbeiten.

Digitale Barrierefreiheit ist nicht nur ein rechtliches Muss. Vielmehr kann sie unser aller Alltag einfacher machen. Das zeigen viele Erfindungen wie zum Beispiel die Sprachassistenten Siri und Alexa, die zur Förderung der Barrierefreiheit entstanden sind. Selbst ein Video mit Untertiteln ist für uns alle hilfreich, wenn wir unser Umfeld nicht beschallen wollen.

Wichtig ist heutzutage, bei der Entwicklung einer Software oder Anwendung von Anfang an darauf zu achten, dass sich diese per Tastatur steuern lässt. „Das ist leicht zu realisieren und bringt meist keinen großen Kostenaufwand“, weiß Daniel aus seiner eigenen Erfahrung im Softwaretesting. „Nachbessern ist dagegen schwierig.“

Sie wollen digitale Barrierefreiheit umsetzen? Sprechen Sie mit uns!

Daniel Gehrke

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QS und Testing

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Charlene Walther

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Beratung Digitale Barrierefreiheit

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