Neues aus der HEC
„KI ist die neue Digitalisierung“: Hype oder echter Mehrwert für Unternehmen?
23. September 2024 / Annekathrin Gut
Ob Podcast, Fachzeitschrift oder Social Media: Täglich hören und lesen wir von den neuen Möglichkeiten, die Künstliche Intelligenz (KI) Unternehmen bietet. Häufig verbunden mit einem mahnenden Fingerzeig: Verpassen Sie nicht Ihre Chance! „Müssen wir diesen KI-Trend jetzt auch mitmachen“, fragen sich viele Unternehmen besorgt, zucken die Achseln und gehen wieder zum Tagesgeschäft über.
Dabei müsste die Frage heißen: „An welchen Stellen verspüren wir Schmerzen?“ Zumindest meint das Markus Tholema, der als Berater der HEC seit vielen Jahren Unternehmen in allen Fragen rund um die digitale Transformation begleitet. Aus seiner Sicht muss Software möglichst genau Probleme lösen und das Geschäft unterstützen. Doch stattdessen beobachtet er einen losgelösten Hype rund um KI. Ist sie damit die neue Digitalisierung?
Markus, du hast die These aufgestellt: „KI ist die neue Digitalisierung.“ Wie kommst du darauf?
Markus Tholema: Die Aussage ist natürlich ein bisschen in den Raum geworfen. Aber ich nehme wahr, dass wir in den letzten zehn Jahren ein Buzzword nach dem anderen durch den Markt treiben – ob das Web 2.0 ist, oder Digitalisierung, oder KI. Das vermittelt insgesamt den Eindruck: Wenn Menschen sich jetzt nicht mit dem Thema beschäftigen, werden ihre Geschäftsmodelle nicht mehr funktionieren. Das ist ausgemachter Quatsch.
Im Kontext der Digitalisierung haben wir gelernt, dass diese für jedes Unternehmen etwas anderes ist. Das gilt für Web 2.0, KI, Cloud-Computing, AR/VR und alle anderen Digitalthemen genauso. Die Innovationskraft, die aus Forschung und Entwicklung entsteht, wird immer schneller. Als Unternehmen werde ich nicht jeden Trend nutzen können.
Jedes Unternehmen ist ein Stück weit anders aufgestellt und muss in die Lage versetzt werden, für sich zu entscheiden, auf welche Themen es aufspringen muss. Was ich bemängele, ist dass sich insbesondere im Mittelstand viele einfach nicht regelmäßig mit den Trends auseinandersetzen und die Beratungsangebote wahrnehmen, die es gibt.
Also daher die These. Am Ende ist das Buzzword völlig egal. Worum es geht, ist dass ich als Unternehmen eine Entscheidung treffen kann: Was hilft mir wirklich?
Wie schaffe ich das denn als Unternehmen?
Markus Tholema: Aus meiner Sicht hilft die ständige Auseinandersetzung mit dem eigenen Geschäftsmodell: Wo habe ich Themen, bei denen ich nicht an meinem Projekt oder an meinem Kunden arbeite? Und wie kann ich diese optimieren? Und ja, da braucht es fachliche, technische Unterstützung, um diese Themen bewertbar zu machen.
Mit Blick auf KI – was hilft konkret bei der Orientierung?
Markus Tholema: Als HEC haben wir sehr erfolgreich Digitalisierungsberatung gemacht. Ähnliches sehe ich auch für die KI-Beratung. Das sollte leichtgewichtig, im Sinne von finanziell überschaubar sein. Als Experte würde ich zunächst die Führungskräfte fragen: Wo seht ihr denn Herausforderungen bei euch im Unternehmen? Wo seht ihr Ansatzpunkte für Digitalisierung oder KI?
Die Punkte, die wir dann identifiziert haben – und das können im ersten Schritt auch nur 2, 3 oder 4 sein – mit denen setzen wir uns auseinander. Wir schreiben sie in ein Backlog und machen sie bewertbar, indem wir sie projektieren. Würde jedes Unternehmen nur ein Budget von zehn Tagen im Jahr bereitstellen, könnte es den Transformationsprozess dauerhaft integrieren.
Gilt das für kleine Unternehmen genauso wie für große?
Markus Tholema: Davon bin ich felsenfest überzeugt. Wir haben uns vor Jahren für das Go-Digital-Förderprojekt akkreditieren lassen. Aus Bundesmitteln gab es 20.000 Euro Förderung für Innovationsvorhaben. Ich habe gedacht, das läuft wie geschnitten Brot. Und dann haben wir in drei Jahren keinen einzigen Auftrag damit gehabt. Warum? Weil insbesondere im Mittelstand, im Handwerk zum Beispiel, Unternehmen gesagt haben: Wir haben genug zu tun. Wir beschäftigen uns jetzt doch nicht noch mit Digitalisierung! Jetzt kommt das Thema E-Rechnung. Das haben viele verschlafen. Dabei hätten sie viel früher die Grundlagen schaffen können, um das jetzt ganz einfach handhabbar zu machen. Sie hätten zum Beispiel eine Schnittstelle zur DATEV schaffen können. Die bieten die Voraussetzung für E-Rechnungen an.
Gerade das Thema KI kann ohne Beratung sehr schnell Frust erzeugen.
Markus Tholema: Genau. Ich nehme zum Beispiel den Chatbot auf meinem Rechner und sage ihm: Sammel mir bestimmte Daten zusammen. Dann scannt er meinen E-Mails, meine Dateiablage, Informationen im SharePoint und alle möglichen anderen Quellen. Wenn ich im Unternehmen vorab keine vernünftigen Berechtigungsstrukturen eingeführt habe, dann findet der Chatbot vielleicht auch Mitarbeiterverträge. Das erzeugt Frust. Ich muss frühzeitig Voraussetzungen dafür schaffen, dass ich diese Technologien tatsächlich auch nutzen kann.
KI ist ja auch nicht gleich KI. Kannst du ein bisschen Licht in den Dschungel bringen?
Markus Tholema: Da deckt sich KI wieder mit Digitalisierung. Für den einen geht es darum, Tätigkeiten zu automatisieren. Für den anderen bedeutet Digitalisierung, neue Organisationsmodelle zu schaffen. Bei KI ist es ähnlich.
Wo zum Beispiel regelmäßig Protokolle geschrieben oder Meetings zusammengefasst werden müssen, da machen wir ganz gute Erfahrungen mit ChatGPT, Copilot und Co. Oder auch dort, wo ich sonst viel Recherche im Netz machen muss.
Ein anderer Themenkomplex sind Daten. In fast allen Unternehmen fallen jede Menge Daten an. Schlagwort Data Science: Ich kann mich mit diesen Daten auseinandersetzen, um Anomalien festzustellen, Vertriebsansätze zu finden oder im Versicherungsbereich Deckungslücken zu identifizieren. Ein großes Pfund ist auch, diese Erkenntnisse zu visualisieren. Da machen wir ganz gute Erfahrungen.
Dann gibt es Tool-Baukästen, also fertige kleine Programme, die ich zusammenstellen und nutzen kann. Damit muss man oft experimentieren. Einer unserer Kunden hat bislang Papierfragebögen ausgewertet. Es gibt hunderte verschiedener Ansatzpunkte, wie man diese mit Hilfe eines KI-Baukastens schneller auswerten könnte. Wir haben dann mit Menschen, die sich damit auskennen, einen halben Tag lang einen Hackathon gemacht. Wir wussten vorher nicht, dass dabei eine gute Lösung herauskommen würde.
Auch das könnte zu Frust führen, wenn du viel Zeit investierst und es kommt nichts heraus.
Markus Tholema: Es führt nur dann zu Frust, wenn ein Dienstleister falsche Versprechen macht. Man muss transparent sein. Und mein Wunsch ist: Ein Unternehmen sollte feste Budgets für diese Themen zurückstellen. Wenn es einen Innovationstopf hat, dann frustet es auch nicht, wenn man experimentiert. Ich glaube, dass solche Dinge auch im Mittelstand in kleineren Unternehmen mit vertretbarem Aufwand eingeführt werden können.
Dadurch könnte ich ganz neue Geschäftsmodelle erfinden. Wenn ich zum Beispiel Wärmepumpen produziere, warum baue ich nicht kleine Sensoren ein, die über die Cloud melden, in welchem Zustand das eingebaute Gerät ist? Ich könnte Supportverträge mit meinen Kunden abschließen und bei Störungen frühzeitig auf sie zugehen. Da steht der Techniker vor der Tür, bevor diese ihn angerufen haben.
Wenn du eine Anfrage bekommst, wie gehst du vor?
Markus Tholema: Im ersten Schritt ist es wichtig, mit den Menschen auf der übergeordneten Ebene zu sprechen und zu fragen: Wenn ihr in euer Tagesgeschäft guckt, an welchen Stellen verspürt ihr Schmerzen? Im nächsten Schritt geht es darum, mit den anderen Mitarbeitenden den Prozess durchzugehen. Wir mit unserer KI-Expertise können sagen: Guck mal, an dem Punkt könnten wir mal versuchen, ob wir das optimiert kriegen. Wir haben eine Reihe von Use-Cases, wo wir ähnliches gemacht haben.
Also siehst du den Wert von KI in Optimierung?
Markus Tholema: Das ist vielleicht zu kurz gesprungen. Optimierung im Sinne von Dinge abnehmen, die ich heute manuell tue, das kann in vielen Bereichen KI für mich tun. Aber ich glaube, dass KI mehr ist. Dass KI tatsächlich für Unternehmen die Möglichkeit bietet, völlig neue Geschäftsmodelle aufzutun. Das ist tatsächlich noch ein bisschen innovativer als die schnöde Digitalisierung.
Im Englischen gibt es die Begriffe Digitalisation, Digitization und dann noch Digital Transformation gibt. Eigentlich geht das ja schon in Richtung der Digital Transformation, also wie verändere ich Wertschöpfung, Arbeitskultur, Zusammenarbeit.
Markus Tholema: Ja, wenn ich über Digitalisierung nachdenke, dann auch immer in diesen drei Bereichen. Wann hat mein Kunde seine Kunden zuletzt gefragt, ob ihnen das Produkt gefällt? Dann die Turnschuhthemen: Was ist mit meinen Prozessen und Applikationen – sind die eigentlich gut? Und was ist mit Arbeitskultur, Innovationskraft in dem Unternehmen? Diese drei Bereiche kannst du auf KI genauso werfen.
Zurück zu meinem Handwerksbetrieb mit drei Mitarbeitenden: Wenn er es momentan gut findet, seine Arbeitsstunden auf dem Zettel aufzuschreiben und auch keinen Mehrwert darin sieht, das zu verändern, dann mag das völlig in Ordnung sein. Aber das zu hinterfragen und in den Austausch zu gehen, das kann gut sein.
Also alles kann, nichts muss…
Markus Tholema: Wir erzeugen am Markt ständig Druck: Ihr werdet alle untergehen, wenn ihr euch mit den Themen nicht beschäftigt. Ihr müsst jetzt das und das machen. Gar nichts müssen die machen! Wenn sie ihr Geschäftsmodell im Griff haben, dann tun sie gut daran, sich mit den Trends auseinandersetzen und bestenfalls mit unserer Hilfe dahinzukommen, die Themen zu identifizieren, die sie wirklich weiterbringen – und nicht jedem Trend hinterherzuhecheln.
Das ist das Credo, auf das ich immer zurückkomme, auch das, was du sagst, aus dem englischen und amerikanischen Sprachraum: Ich muss gar nichts. Aber ich muss mich als Unternehmer in die Lage versetzen, gute Investitionsentscheidungen treffen zu können.
Und als Unterthese zu „KI ist die neue Digitalisierung“: Meine Wahrnehmung ist, dass im Mittelstand das Tagesgeschäft ist, alle Aufträge zu bewältigen. Aber sich mal fünf Tage Zeit nehmen, sich über die reinen Kennzahlen hinaus mit dem eigenen Unternehmen zu beschäftigen, das ist nicht die Regel.
Was wird das nächste Buzzword nach KI?
Markus Tholema: Ich hoffe, Virtual Reality. Ich finde das technisch einfach revolutionär und würde mich freuen, wenn wir insbesondere in der Produktion, aber auch anderswo in der Lage wären, diese Technologie einzusetzen. Diese Brillen müssen natürlich bezahlbar werden. Ich bin gespannt, wann es eine echte Marktreife in diesem Bereich gibt.
Ich habe einen interessanten Kunden aus dem Bereich Wärmepumpen, der seine Installateure mit VR-Brillen ausstattet. Damit haben sie immer alle Dokumente direkt griffbereit und können vor Ort viel einfacher arbeiten. Die sind schon sehr weit vorne, finde ich. Davon hätte ich gerne mehr. Es wäre jetzt die Zeit, sich mit solchen Themen auseinanderzusetzen. Use Cases zu überlegen, die vielleicht in zehn Jahren für ein Unternehmen wertvoll sein können.