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Logistik / Trends und Technologien

Von der Digitalisierung zur digitalen Transformation - Gespräch mit Jakub Piotrowski von BLG LOGISTICS über Trends und Entwicklungen in der europäischen Logistik

14. Oktober 2024 / Annekathrin Gut

Die Digitalisierung ist ein wichtiger Treiber für Effizienz und Innovationen in der Logistikbranche. Doch wie weit ist sie in Deutschland und Europa vorangeschritten? Welche Trends und Technologien gilt es zu berücksichtigen? In unserem Interview spricht Jakub Piotrowski, CIO/CDO der BLG Logistics Group, über die Chancen und Herausforderungen für die Logistik und über die eigenen Erfahrungen, die er in zahlreichen IT- und Digitalisierungsprojekten für die BLG gewonnen hat.

Herr Piotrowski, wie digital sind nach Ihrer Einschätzung die deutsche und die europäische Logistik?

Jakub Piotrowski: Ich versuche, da zu unterscheiden. Im Deutschen gibt es das Wort "Digital". Im Englischen gibt es dafür zwei Wörter, nämlich "Digitization" und "Digitalization". Das erste, "Digitization", ist im Prinzip das Digitalisieren von Papier in etwas Elektronisches. "Digitalization" geht ein bisschen weiter, indem ich Prozesse anpasse und Plattformen anbinde. Es gibt einen weiteren Begriff im Englischen wie im Deutschen: die "digitale Transformation". Da geht es ein Stück weiter in Richtung Geschäftsmodelle.

In Summe sind wir im ersten Schritt der Digitalisierung in Deutschland recht weit, insofern als dass wir Papier durch ein digitales Medium ersetzt haben. Im Transportbereich sind Lieferscheine und Begleitpapiere aber immer noch ganz stark ein Thema. Die werden ausgedruckt, im Lkw mitgenommen und übergeben. Andere Länder in Europa sind deutlich weiter. Die haben zum Teil E-Lieferscheine eingeführt.

Wo wir noch Schwächen haben, ist in der Vernetzung der einzelnen digitalen Lösungen. Wir, und damit meine ich nicht die BLG im speziellen, sondern eher die Branche an sich, tun uns schwer, über die Logistik-Supply-Chain Daten bereitzustellen, Informationen auszutauschen und die Systeme vernünftig miteinander zu vernetzen. Das merken wir als BLG LOGISTICS konkret beim Andocken der BLG-Systeme an Kundensysteme. Diese sind oft sehr individuell. Das ist aber auch international ein Thema, zum Beispiel bei unseren Standorten in den USA.

Wo beobachten Sie die größten Bedarfe für die Digitalisierung in der Logistik?

Jakub Piotrowski: Die Kernprozesse in der Logistik sind nach meiner Wahrnehmung gut digitalisiert. Aber wir haben sehr viele vor- und nachgelagerte Prozesse. Ich meine damit zum Beispiel die Zulaufsteuerung zu einem Standort, die Zeitfenstersteuerung von Lkw. Warum ist das so essenziell? Meines Erachtens, weil die Kernprozesse erst effizient funktionieren können, wenn der Vor-Lieferant in der Kette entsprechende Informationen bereitstellt. Sein nachgelagerter Prozess greift in meinen vorgelagerten Prozess hinein. Mit diesen Schnittstellen tun wir uns als Branche noch schwer.

Plus: Die Planung und Steuerung von Prozessen ist eine echte Challenge. Wir haben in den meisten BLG-Lösungen Module und Algorithmen dafür. Die haben aber mit unvorhersehbaren und flexiblen Anforderungen der Kunden ohne eine Nachjustierung Schwierigkeiten. Nach der Coronazeit haben wir gemerkt, wie volatil die Kundenlandschaft wird. Die Planungs- und Steuerungsalgorithmen sind regelbasiert. Etwas, das nicht in der Regel ist, damit kann der Algorithmus nicht gut umgehen.

Wenn also zum Beispiel ein längerer Stau dazwischenkommt…

Jakub Piotrowski: Dann muss jemand manuell nachhelfen. Das weltweite Netz von Lieferketten ist relativ fragil. Durch Volumenveränderungen, Supply-Chain-Veränderungen, Wetterereignisse und durch geopolitische Veränderungen wegfallende Absatzmärkte oder Lieferwege passieren Dinge, die wir in den Regelalgorithmen nicht abdecken oder die nicht besonders effizient sind.

Jakub Piotrowski steht in einem Flur

Jakub Piotrowski verantwortet seit 2020 die IT für die gesamte BLG-Gruppe. Das Aufgabengebiet umfasst die Bereiche Contracting/Warehousing sowie die Fertigfahrzeug-Logistik. In seinem Team sorgen 145 Expert:innen für alle IT-Services von der Software über die Hardware bis zur Infrastruktur, die die BLG für ihre operativen und kaufmännischen Prozesse braucht. Jakub Piotrowski hat seit 2012 bei der BLG in verschiedenen Positionen Erfahrungen gesammelt, zuletzt als Leiter des Bereichs Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Piotrowski ist Diplom-Informatiker und war an der Universität Bremen unter anderem Geschäftsführer des Sonderforschungsbereichs "Selbststeuerung logistischer Prozesse".

Wenn wir Logistikunternehmen mal die Karotte vor die Nase hängen: Welche handfesten Vorteile haben sie, wenn sie digitalisieren?

Jakub Piotrowski: Mit der Digitalisierung ergibt sich eine Riesenchance: Sie bekommen Transparenz über das, was in Ihrer Logistikkette – sei es im Transportnetz, sei es im Lager – passiert. Datentransparenz ist die Voraussetzung, damit ein Algorithmus überhaupt arbeiten und vielleicht später einmal eine KI auf die spezifische Herausforderung angelernt werden kann. Diese Transparenz funktioniert nicht, wenn Sie nicht digital sind, oder wenn Sie Medienbrüche haben – also an bestimmten Stellen Informationen auf Papier erfasst und dann übertragen werden müssen.  Dann haben Sie Datenlücken.

Wie alles im Leben hat die Digitalisierung eine Kehrseite. Das ist Grün an der Karotte, das man nicht essen kann: Die Digitalisierung reglementiert den Prozess. Auf einem Stück Papier sind Sie unheimlich flexibel. Sie können beispielsweise noch etwas dazuschreiben. Wenn im digitalen Medium etwas nicht programmiert ist, dann geht das nicht. Wenn man Prozesse digitalisiert, muss man alle möglichen Fälle durchdenken.

Mit der Digitalisierung ergibt sich eine Riesenchance: Sie bekommen Transparenz über das, was in Ihrer Logistikkette – sei es im Transportnetz, sei es im Lager – passiert.

Das kann tief in die Unternehmensstrukturen und -abläufe hineinreichen.

Jakub Piotrowski: Genau. Meine Erfahrung ist: Man muss den Prozess hinterfragen. Ein schlechter manueller Prozess ist morgen auch ein schlechter digitaler Prozess. Wenn man an die Prozesse rangeht, hat man die große Chance, Dinge neu zu denken und die Potenziale der Digitalisierung auszunutzen.

Ich glaube, dass sich die Zeitspannen, in denen wir prozessunterstützende Softwarelösungen, Algorithmen oder Tools implementieren, verringern werden. Alle drei, alle fünf Jahre wird es einen Wechsel geben. Und das ist dann nicht nur eine neue Version, sondern ein ganz neues Tool. In der IT muss ich dafür Strukturen schaffen.

Da spielt auch das Mindset hinein. Wir stellen immer wieder fest, dass wir in Deutschland die Hundert-Prozent-Lösung wollen. In den USA zum Beispiel geht man anders mit dem Thema Innovation um. Da ist man auch bereit, eine Lösung, die 80 bis 90 Prozent der Anforderungen abdeckt, auszurollen und die restlichen zehn Prozent im Betrieb zu entwickeln.

Die Bundesvereinigung Logistik betrachtet das Thema Nachhaltigkeit als eine wichtige Herausforderung. Wie kann die Digitalisierung die Logistikunternehmen dabei unterstützen?

Jakub Piotrowski: Nach aktuellen Statista-Angaben ist die Logistik im Augenblick für knapp 20 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich. Die Logistikbranche ist doppelt gebeutelt: Auf der einen Seite muss sie möglichst klimaneutrale Transporte darstellen. Auf der anderen Seite wird eine unheimliche Flexibilität erwartet und eine Absicherung, dass der Transport zum gewünschten Zeitpunkt durchgeführt wird. Das ist ein Zielkonflikt.

Aus digitaler Sicht kann ich es ermöglichen, mit Hilfe der Informationen, die ich durch die Digitalisierung bekomme, Transporte möglichst effizient zu machen. Die Telematikeinhelt des Lkw meldet den Standort, Kunden schicken einen Forecast über die Aufträge, dazu die Nutzung von Plattformen. Das hilft, um Transportaufträge und -netzwerke so zu steuern, dass möglichst wenig Leerkilometer anfallen oder Waren auf den effizientesten Strecken gefahren werden.

Daneben gibt es andere Faktoren wie alternative Antriebe oder die Dachflächen von Logistik-Lagerhäusern, die sich für Photovoltaik-Anlagen eignen. Ich glaube, beim Thema Green Logistics und Nachhaltigkeit gibt es eine Menge Potenzial. Wir befassen uns bei der BLG seit vielen Jahren im Rahmen unserer Mission Klima mit dem Thema. Bis 2030 will BLG LOGISTICS bilanziell klimaneutral sein. Die Kunden müssen allerdings auch bereit sein, für einen grüneren Transport zu bezahlen. Nachhaltigkeit oder Ökologie gibt es nicht kostenneutral. Das Thema ist aber bei vielen Kunden angekommen. Heute haben Viele das Mindset und nutzen aus Überzeugung Möglichkeiten, um die Logistik ökologisch sinnvoller zu gestalten.

Weil KI so neu ist, braucht man ein Rahmenwerk für die Nutzung im Unternehmen. Es entstehen neue Fragestellungen: Wie nehme ich Mitarbeitende mit? Wie gehe ich mit Datenschutz und ethischen Fragen um?

Wie für fast alle Branchen gilt die Künstliche Intelligenz auch in der Logistik als wichtiger Zukunftstrend. Wie sehen Sie das?

Jakub Piotrowski: Absolut. Wir unterscheiden bei uns zwischen spezifischer und generativer KI. Die spezifische KI bietet Lösungen, die zum Beispiel über Bildverfahren Teile erkennen können. Generative KI ist das, was man üblicherweise unter ChatGPT und Co. versteht. Die KIs haben unterschiedliche Einsatzpunkte.

Insbesondere die spezifischen KI-Lösungen haben ein unheimliches Potenzial, um Prozesse abzusichern und Routineaufgaben zu automatisieren. Zum einen fordern unsere Kunden Flexibilität ein, auf die unsere Planungsalgorithmen adäquat reagieren müssen. Zum anderen haben wir im kaufmännischen und gewerblichen Bereich einen Fachkräftemangel, den wir kompensieren müssen.

Generative KI kann eine unheimlich große Hilfe als Assistenzsystem bieten. Es gibt generative Lösungen, die durch Nachahmen von menschlicher Sprache wie ein Kommunikationspartner agieren. Die sind sehr flexibel und können Kontexte erkennen. KI ist aber kein Ersatz für einen Menschen, egal in welcher Funktion – im Lager, im Leitstand, im kaufmännischen Bereich. Sie kann und soll die Arbeit erleichtern.

Weil KI noch so neu ist, braucht man ein Rahmenwerk für die Nutzung im Unternehmen. Es entstehen neue Fragestellungen: Wie nehme ich Mitarbeitende mit? Wie gehe ich mit Datenschutz und ethischen Fragen um? Solche Themen hatten wir schon, als das Thema Cloud aufkam. Da waren wir alle skeptisch: Ich kann doch nicht meine sensiblen Daten in die Cloud stellen! Heute ist die Nutzung von Cloud-Diensten total normal. Wir haben gelernt, wir haben Rahmenbedingungen geschaffen, wir sind uns sicher – soweit man heute in der IT-Welt sicher sein kann – dass die Daten nicht verschwinden. Ich glaube, diesen Weg werden wir auch mit KI gehen. Wir stehen aber noch am Anfang.

Welcher Trend ist aus Ihrer Sicht darüber hinaus wichtig?

Jakub Piotrowski: Das Thema Cybersecurity betrifft die IT-Abteilungen sehr stark. Das ist herausfordernd, auch für die Softwareentwicklung. Es gibt verschiedene Ansätze, um Systeme abzusichern und Anomalien möglichst früh zu erkennen.

Cyberangriffe sind sehr vielfältig. Man hat immer vor Augen, dass das System plötzlich verschlüsselt ist. Es gibt aber auch Cyberangriffe, die Datenmanipulation auslösen. Das merken Sie nicht so einfach! Wenn Kundendaten verändert und auf einmal Aufträge umgeroutet würden, das könnte einen dramatischen wirtschaftlichen Schaden herbeiführen.

Was sind die Erfahrungen der BLG: Wie fängt man Digitalisierung am besten an?

Jakub Piotrowski: Wenn es überschaubare Aktivitäten sind, starten wir über ein MVP - also Minimal Viable Product - oder ein Proof of Concept, mit dem ich sehr schnell etwas digitalisieren kann und zeitnah ein Feedback vom User bekomme. Wir legen viel Wert darauf, den für den Prozess verantwortlichen Fachbereich mitzunehmen und ganzheitlich zu unterstützen. Gemeinsam schaffen wir die besten Lösungen.

Wir versuchen, den Scope nicht zu groß zu machen, sondern in kleinen Schritten zu gehen. Manchmal muss man sich tatsächlich einen Prozess End-to-End anschauen, weil er sich nicht loslösen lässt. Dabei haben wir festgestellt, dass die gemeinsame Konzeption mit dem Fachbereich und einem Testing in kleinen Abschnitten – das agile Vorgehen – sehr zielführend ist.

Nicht mehr up to date ist: Wir rollen ein Stück Softwarelösung aus und die bleibt für zehn, fünfzehn Jahre bestehen. Die Anforderungen ändern sich so stark und die Möglichkeiten wachsen, dass wir uns darauf einstellen müssen, dass die Zyklen immer kürzer werden.

Die BLG hat selbst eine große IT-Abteilung. Wozu braucht sie externe Partner wie die HEC?

Jakub Piotrowski: Zum einen, um neue Methoden und Vorgehensweisen zu etablieren. Externe Partner haben den Vorteil, dass sie andere Herausforderungen sehen und dieses Best-Practice-Wissen zu uns transferieren können. Natürlich haben wir uns über das agile Vorgehensmodell informiert. Aber es in der Praxis umzusetzen, das haben wir mit einem externen Partner gelernt, der weiß, wo die Fallstricke sind.

Der andere Punkt ist: In der IT möchte man Reviews machen, um zu sehen, wo sich Dinge verbessern und effizienter machen lassen. Das mit eigenen Mitarbeitenden durchzuführen, löst manchmal das Gefühl aus, die eigenen Lösungen zu kritisieren. Da hat ein Externer oft einen neutraleren Blick und kann uns den Spiegel vorhalten.

Ein dritter Punkt ist für mich der Flexibilitätsgewinn für unsere IT-Abteilung. Manchmal bekommen unsere Kunden, die Fachbereiche der BLG, sehr viele Themen gleichzeitig auf den Tisch. Mit einem externen Partner – und wir setzen sehr gerne auf strategische, langfristige Partnerschaften – kann man dann ein Stück weit atmen.

Autos auf einem Autorail-Zug mit BLG-Logo

BLG LOGISTICS ist ein Seehafen- und Logistikdienstleister mit einem internationalen Netzwerk. Heute ist die BLG-Gruppe mit fast 100 Standorten und Niederlassungen in Europa, Amerika, Afrika und Asien auf allen Wachstumsmärkten der Welt präsent. Die Geschäftsbereiche AUTOMOBILE und CONTAINER sind führend in Europa. Der Geschäftsbereich CONTRACT gehört zu den führenden deutschen Anbietern

Über die Autorin

Annekathrin Gut

Annekathrin Gut

Unternehmenskommunikation

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Seit über 20 Jahren ist Annekathrin im Kommunikations- und Marketingbereich aktiv, seit 2019 für die HEC. Die Kulturwissenschaftlerin und Public Relations-Beraterin begleitet Unternehmen und Institutionen aus der (Digital-)Wirtschaft dabei, ihre individuelle Strategie und ihr Auftreten in der Öffentlichkeit zu finden. Für sie ist es immer wieder spannend, Menschen kennenzulernen und Ideen in Texte, Storys, Kampagnen und Projekte umzusetzen.