Logistik / Trends und Technologien

Digitaler Wandel in der maritimen Logistik: Weil der Markt nichts passendes bot, entwickelte PWL ein eigenes Agentur-Reederei-System

19. September 2024 / Annekathrin Gut

Wenn der Markt nichts Passendes bietet – und wie Andree Brinkmann bei PWL dennoch ein multifunktionales Agentur-Reederei-System einführte

Alles andere als vorhersehbar ist das Geschäft mit der Logistik auf hoher See. Ein Linienagent wie die Bremer Peter W. Lampke GmbH & Co. KG (PWL) muss schnell Lösungen finden können, besonders bei Krisen wie zuletzt im Roten Meer oder bei unterbrochenen Seewegen, etwa während der Corona-Pandemie. Wenn wie bei PWL dazu noch das Leistungsportfolio breit gefächert ist, kommen die Arbeit mit Excel und die Kommunikation mit Outlook schnell an ihre Grenzen.

Geschäftsführer Andree Brinkmann hat deshalb eigens für PWL ein Agentur-Reederei-System entwickeln lassen. Das kann die ganze Breite der Leistungen – die Verladung von Containern, Fahrzeugen, Projektladung, Gefahrenstoffen, Stück- und Massengut – digital abbilden. „Das, was wir konzipiert haben, ist eine Nischenanwendung, die es so nicht auf dem Markt gibt“, sagt Andree Brinkmann und klingt dabei ein wenig stolz.

Inhabergeführte PWL-Gruppe für die maritime Logistik

Aus dem Besprechungsraum von PWL blickt man weit über die grünen Bremer Wallanlagen hinweg auf die Innenstadt. Das mittelständische Unternehmen ist in den 60 Jahren seines Bestehens dem Viertel treu geblieben und immer nur mal ein paar Gebäude weitergezogen. Die Peter W. Lampke GmbH & Co. KG gehört zur inhabergeführten PWL-Gruppe und ist einer der wenigen unabhängigen Schiffsmakler in Deutschland. Neben dem Hauptsitz in Bremen ist die Gruppe mit 220 Mitarbeitenden an zahlreichen wichtigen Hafenstandorten in Deutschland vertreten.

Die PWL Gruppe ist in der maritimen Logistik mit fünf Standbeinen breit aufgestellt: Traditionell vertritt sie im Agenturgeschäft namhafte Reedereien. Ein weiteres Geschäftsfeld ist die Kontraktlogistik, unter anderem für Autobauer wie Volkswagen. Hinzu kommen die Projektlogistik sowie die Klarierung, für die PWL der größte Agent in Deutschland ist. Das jüngste Standbein ist die Belieferung von Kreuzfahrtschiffen.

Ein Mann mit Anzug sitzt in einem Sessel. Vor ihm steht eine Flagge mit der Aufschrift PWL auf einem Tisch.
Andree Brinkmann treibt als Geschäftsführer bei PWL die Digitalisierung voran.

Digitalisierungsdruck in der Logistik-Supply-Chain

Als vor ein paar Jahren das Schlagwort „Digitalisierung der Supply Chain“ die Runde machte, überlegte auch PWL, wie sich im Containerbereich die diversen Schnittstellen rund ums Schiff digital anbinden ließen – zum Zoll, zu den lokalen Behörden sowie den Terminals und Depots. Im Projekt „Leitstelle Schiff“ wurde über Blockchain, Real-Time-Tracking, GPS-Anforderungen und künstliche Intelligenz diskutiert. „Da merkte ich, es kommt eine Dynamik rein, die wir aus uns heraus nicht mehr beantworten können. Wir brauchen einen Partner“, erzählt Andree Brinkmann. „Deshalb haben wir das Projekt mit der HEC gestartet und fühlen uns dort und in der ganzen team neusta-Gruppe gut aufgehoben.“

Hinzu kam der Generationswechsel: Auch wenn die internen Logistik-Anwendungen bis dato noch stabil auf einer AS/400-Umgebung liefen, legte der Service-Provider PWL nahe, sich nach einem neueren Softwareprodukt umzuschauen. Über kurz oder lang werde es einfach keine Programmierer:innen und damit keinen Support für das in die Jahre gekommene ERP-System mehr geben.

Mediale Brüche vermeiden

In mehreren Workshops untersuchte die HEC zusammen mit  PWL ab dem Jahr 2019 die Tätigkeiten im Agenturgeschäft und die Schnittstellen zu Fremdsystemen. Auffällig waren die vielen medialen Brüche: Aus dem einen System wurde etwas ausgedruckt und per Hand in ein anderes System eingegeben. „Ich nenne das das human interface“, sagt Andree Brinkmann. „Diese medialen Brüche wollten wir beseitigen, indem wir digitalisieren.“

In einem Software-Auswahlverfahren wurden mehrere Branchenlösungen betrachtet. „Dann sind wir zu dem Entschluss gekommen: Das sind etablierte Systeme, die allerdings nicht unser Geschäft darstellen“, sagt der PWL-Geschäftsführer. „Sie sind punktuell nur auf bestimmte Produkte zugeschnitten.“ PWL brauchte aber eine Anwendung, die das breite Produktportfolio abdeckt, und die selbst supported und schnell angepasst werden kann.

Mit der Software-Plattform Lobster_pro schlug die HEC eine Low-Code-Lösung als Mittelweg zwischen Standard- und individuell entwickelter Software vor: Einmal eingerichtet bieten Bausteine zahlreiche individuelle Konfigurationsmöglichkeiten, die sich auch von Personen ohne umfassende Programmierkenntnisse umsetzen lassen. Entwickler:innen der HEC programmierten ergänzend dazu die für die externe Kommunikationsanbindung benötigten EDIFACT-Schnittstellen des Schifffahrtsstandards mittels Lobster_data.

Low-Code als flexible Lösung

Eine längere Zeit dauerte es, um aus dem Wünschenswerten das realistisch Machbare herauszuarbeiten. Das Projekt „Leitstelle Schiff“ war zu Beginn zu umfassend angelegt. Als leichter umzusetzen erwies sich ein Teilprojekt, die Digitalisierung des Linienagentur-Geschäftes. Innerhalb von einem halben Jahr wurde ein Proof of Concept auf der Basis von Lobster_pro entwickelt. Die dabei entstandene Anwendung konnte direkt in Betrieb genommen und genutzt werden. Diese wird zunehmend weiter ausgebaut. So wurde Anfang dieses Jahres auch das Container-Geschäft an die Lösung angebunden.

„Das hat so gut geklappt, dass wir das gesamte Agenturgeschäft nun auf ein System konzentrieren können“, sagt Andree Brinkmann. „Weg von den medialen Brüchen in der Kommunikation mit diversen anderen externen Kundensystemen. Wir können über Interfaces alles in der Supply Chain darstellen: von der Buchung, zum Laden Schiff, bis Löschen Seehafen.“

Unser Geschäft ist in der Kommunikation um das Fünffache schneller geworden, wenn nicht sogar noch schneller!

Andree Brinkmann
Ein Mann im Anzug sitzt hinter einem Schreibtisch.

Kunden schneller anbinden

„Unser Geschäft ist in der Kommunikation um das Fünffache schneller geworden, wenn nicht sogar noch schneller“, hat der PWL-Geschäftsführer festgestellt. Bevor zum Beispiel ein Schiff in Shanghai abfährt, müsse es in Bremerhaven vorverzollt werden. Das bedeute, dass rund 600 Seiten Ladungspapiere 24 Stunden vor Abfahrt eingegeben, dem Zoll elektronisch übergeben und zurückbestätigt werden müssen. „Das geht heutzutage nur noch digital. Das Produkt von der HEC mit der Lobster-Lösung ist das Asset, was wir gebraucht haben.“

Das Agentur-Reederei-System kommt also ohne doppelte Eingaben aus. Die Daten werden im System validiert und verifiziert und anschließend an Reedereien und Kunden weitergegeben. Für die eigene Geschäftsentwicklung können KPIs besser ermittelt und stimmige Forecasts getroffen werden.

Flexibiliät bietet die neue Agentur-Software nun auch bei Neukunden: Innerhalb von zwei Tagen können diese angelegt und ihren Bedürfnissen entsprechend Daten zur Verfügung gestellt werden. PWL erledigt das jetzt inhouse, ohne externen IT-Support.

„Wir hatten mit der Softwarelösung Lobster einen Aha-Effekt. In der Pandemie ist dieser Riesen-Boom von Fernost auf uns zugelaufen. Auf einmal hatten wir fünf Fernost-Reeder, die Import-Container in Hamburg und in Bremerhaven löschen wollten und die wir abwickeln mussten“, erzählt Andree Brinkmann. Diese hatten Ladungspapiere von 600 bis 800 Seiten, aber keine Standardschnittstellen. „Hier haben wir über Lobster Data eine kurzfristige Lösung gefunden, wie wir diese vielen Seiten in ein EDIFACT-Format konvertieren konnten. Binnen zwei bis drei Stunden konnten wir Meldung an den Ladehafen in Shanghai geben.“

Moderne Arbeitsumgebung motiviert Mitarbeitende

Andree Brinkmann lobt die neue, moderne Arbeitsumgebung. Durch die Digitalisierung sei der Papieraufwand fast auf Null gesunken und das Arbeiten im Homeoffice nun problemlos möglich: „Jeder Kollege kann, egal wo er gerade in der Welt ist, seinen Job ausüben. Die Systeme sind überall verfügbar. Es hilft dem Betriebsklima, wenn man Familie und Beruf besser unter einen Hut bekommt.“

Gerade mit Blick auf die jüngeren Fachkräfte seien zeitgemäße Systeme wichtig: „Wenn Sie eine junge Auszubildende an die AS/400 setzen und sie versucht, mit der Maus etwas anzuklicken, dann geht das nicht. Wir haben gemerkt: Wir müssen für unsere neuen Mitarbeiter attraktiv sein. Wir wollen gute Ausbilder sein.“  Schließlich liege das Kapital von PWL allein im Wissen und Können der eigenen Mitarbeitenden, und die müssten mit modernsten Kommunikationssystemen ausgestattet werden.

Mitarbeitende frühzeitig einbinden

Während der Projektphase wurden die Mitarbeitenden regelmäßig beteiligt. „Wir haben immer nur kleine Anwendungen zur Verfügung gestellt und im Tagesgeschäft damit gearbeitet“, erläutert Andree Brinkmann über das agile Vorgehen. „Die Kollegen haben nicht einfach ein neues System vor die Nase gesetzt bekommen, sondern konnten ihren Input und ihre Empfehlung dazugeben. Beim nächsten Sprint haben sie gesehen: ‚Oh, das haben die umgesetzt. So habe ich mir das vorgestellt.‘“

Ausblick und zukünftige Ideen

„Wir sind jetzt 60 Jahre in der maritimen Wirtschaft. Wir müssen unser Geschäft in die nächste Generation bringen“, betont Andree Brinkmann den hohen Stellenwert der Digitalisierung bei PWL. So gebe es zahlreiche weitere Projektideen: „Ein Real-Time-Tracking-System würden wir toll finden. Oder auch, dem Kunden Analysen und KPIs zur Verfügung stellen zu können. Oder beispielsweise Kosten bei der Reparatur von gelöschten Containern zu minimieren. Die Spielwiese ist unendlich“, findet Brinkmann und nennt außerdem Lösungen, die zu mehr Nachhaltigkeit beitragen und den CO2-Abdruck darstellen.

Derzeit treibt die künstliche Intelligenz die ganze Logistikbranche um. „Richtig greifen können wir noch nicht, wo sie uns unterstützen kann“, sagt der PWL-Chef. „Wir haben die Erfahrung gemacht: Logistik ist nicht standardisiert. Es gibt gewisse Prozesse, die sind 0815. Aber was passiert bei etwas Unvorhergesehenem? Dann ist das Individuum nicht durch Systeme zu ersetzen.“

PWL will mit seiner Erfahrung künftig gerne auch anderen Unternehmen zur Seite stehen. Denn viele mittelständische Unternehmen hätten Schwierigkeiten mit dem Schritt in die Digitalisierung. „Sie wissen, es ist kostenintensiv, es ist zeitintensiv und ressourcenintensiv“, sagt Andree Brinkmann und rät: „Man muss einen guten Partner an der Hand haben. Es ist ein Investment für die Zukunft, aber ein sehr teures Investment.“ Wenn man dann aber zum Beispiel keine Eingaben mehr per Copy and Paste machen müsse, dann merken alle: „Digitalisierung kann auch Spaß machen.“