Trends und Technologien
Mit dem Auswanderungslotsen schneller in die Welt
10. Mai 2024 / Annekathrin Gut
Digitales Tool erleichtert Ratsuchenden und Mitarbeitenden des Raphaelswerks die Arbeit
Nina Treue weiß Rat für alle, die aus Deutschland auswandern möchten – oder für die, die nach ein paar Jahren wieder zurückwollen. Die Beraterin des Raphaelswerks in Hamburg war bis vor kurzem die erste Ansprechpartnerin für Auswanderungswillige. Nun nimmt ihr der Auswanderungslotse einen Teil der Arbeit ab. Das Online-Formular erfragt vorab die Basis-Informationen. Für Nina Treue und die Berater:innen im Netzwerk bedeutet das: Mehr Zeit für die komplizierteren Fragen.
Die Mitarbeiterin der Servicestelle beantwortete um die 15 bis 20 Anfragen pro Tag am Telefon. Häufig kam sie erst nach einem längeren Gespräch zu den wichtigen Details, wie zum Beispiel: „Sind Sie eigentlich gesetzlich oder privat krankenversichert?“ Viel Zeit verging so, die sich effizienter nutzen ließe. Und auf Effizienz ist das Raphaelswerk angewiesen. Als gemeinnütziger Verein kann es nur eine begrenzte Beratungskapazität bereitstellen.
Digitalisierung soll Anfrageprozess erleichtern
Deshalb überlegte Nina Treue: „Können wir diesen Clearing-Prozess nicht irgendwie schneller machen? Und einfacher für beide Seiten? Ganz viele ratsuchende Nutzer von Webseiten möchten ja gerne schon mal vorab ihre Anliegen loswerden. Man braucht dafür nicht unbedingt stundenlange Telefongespräche oder 20 E-Mails hin- und herzuschicken.“ Ein einheitlicher Prozess würde außerdem die Zusammenarbeit mit den weiteren Berater:innen im Netzwerk der gemeinnützigen Auswanderungsberatungsstellen erleichtern, um Anfragen weiterzuvermitteln oder gemeinsam zu bearbeiten.
Zusammen mit ihren Kolleginnen Renate Albrecht und Birgit Götte sowie der Generalsekretärin des Raphaelswerk, Birgit Klaissle-Walk, bildete Nina Treue ein Digitalteam und entwarf einen ersten Fragebogen. „Und dann haben wir uns auf die Suche nach einem Projektpartner gemacht, weil uns schon klar war, dass wir das selbst nicht programmieren können.“
Workshop hilft bei der Orientierung
Von der HEC bekam das Raphaelswerk das Angebot, zum Start einen Workshop zu machen. Zwei Anforderungsmanager erkundeten mit dem Digitalteam Anfang November 2023 einen Tag lang die Bedürfnisse der Zielgruppe: Wer sucht euch denn überhaupt? Wie finden die zu euch? Wer braucht was – sowohl aufseiten der Ratsuchenden, als auch aufseiten der Beratenden? „Das war schon wirklich so gut, dass wir gesagt haben: Aha, jetzt haben wir eine Vorstellung, so könnte das aussehen“, sagt Nina Treue
Sehr erhellend fand sie, dass sogenannte Personas die Bedürfnisse anschaulich machten: „Roland Ratlos hatten wir einen User genannt, der auswandern wollte. Uns sind gar nicht alle Hürden eingefallen, die der hatte, weil wir selbst das jeden Tag machen.“ Zum Beispiel: Sucht der User eigentlich über Smartphone oder über ein Notebook? Und hat er dabei gutes Internet zur Verfügung?
Vom Jugendlichen bis zum Rentner, Alleinstehende und Familien: Das Raphaelswerk berät vielfältige Klienten – und zwar mit Informationen über 194 Länder, in die man potenziell auswandern kann. „Jetzt im Trend liegen die mobil arbeitenden Menschen, die mit ihrem Notebook von A nach B fahren“, erzählt Nina Treue. Die positive Erkenntnis des Workshops: Obwohl alle so unterschiedlich sind, lassen sie sich doch in Gruppen zusammenfassen.
Weniger Kosten durch effizienten Technologieeinsatz
Eine weitere Herausforderung war es, den Fragebogen so gut zu strukturieren, dass er sich digital abbilden ließ. Bei der Softwareentwicklung musste das Projektteam dann mit einem schmalen Budget gut haushalten. Softwareentwicklerin Ute Albersmeier erklärt: „Wir haben versucht, das Portal technisch schlank zu halten. Wir haben bewährte Technologien verwendet, um kosteneffizient herauszukommen.“
Aus Begeisterung für das Projekt steckten Teammitglieder auch zusätzliches Engagement hinein. Und, so verrät Agile Master Sophia Feldmeyer: „Wir haben zum Beispiel Technologien ausprobiert, die wir auch anderswo einsetzen können.“ Ute Albersmeier ergänzt: „Mit Hilfe unseres internen Tools ‚Scrum Buddy‘ ist unser Implementierungsprozess so optimiert, dass die Entwicklungsumgebung quasi schon fertig ist.“
Kosteneffizienz bei der Entwicklung ist aber nur ein Aspekt. „Wir wollten versuchen, die Dinge architektonisch und technisch so gut aufzustellen, dass das System auch langfristig kostengünstig ist“, berichtet Sophia Feldmeyer. „Große Hoffnungen setze ich auf Renovate, eine Bibliothek für Updates, so dass die Instandhaltung gut läuft.“
Agile Zusammenarbeit im Team
Das IT-Projekt wurde agil entwickelt, und zwar nach Scrum. Fünf Sprints gab es von November bis Ende März. „Wir haben mit dem Raphaelswerk so einen netten Kunden gehabt“, lobt Entwicklerin Ute Albersmeier die Zusammenarbeit. „Solch ein Teamgedanke ist außergewöhnlich.“
Für Nina Treue und ihre Kolleginnen war die agile Teamarbeit neu und spannend: „Ich hatte selbst noch nie so gearbeitet: Jira-Boards und Sprints und User Stories und Tickets, und was man damit alles so anstellen kann. Es ist total straff und zielführend, man verzettelt sich nicht. Wenn so viele Leute an einem Projekt arbeiten, ist das einfach eine gute Vorgehensweise.“
Agile Softwareprojekte erfordern von den Kund:innen einen gewissen Zeitaufwand: „Renate Albrecht und ich, wir haben mit Begeisterung an den Dailys und weiteren Terminen wie Sprintwechseln teilgenommen, immer mindestens eine von uns.“ Ausgezahlt habe sich das durch eine gute Einbindung: „Man hatte nicht das Gefühl: Die programmieren da irgendwas in ihrem Keller und wir wissen gar nicht was los ist.“
So sieht die Lösung aus
Seit April 2024 ist der Auswanderungslotse online. Das Tool erfragt von den Ratsuchenden grundlegende Informationen: Zielland, Alter, ob Partner:innen und Kinder mitreisen oder Informationen zu Schulsystem und Kindergarten gewünscht sind – und die Motivation für die Auswanderung.
„Die Anfragen laufen in ein Portal, das von uns und den Beratern aus unserem Netzwerk eingesehen werden kann“, beschreibt Nina Treue den Ablauf. Je mehr Angaben gemacht wurden, desto individuellere Informationen können sie geben. „Sie können den Ratsuchenden antworten, indem sie zu bestimmten Themenkomplexen ihre Informationen in ein Antwortfeld schreiben.“ Außerdem gibt es ein Anschreiben und das Angebot für eine direkte Kontaktaufnahme. Aus Datenschutzgründen fragt das Portal keine direkten Kommunikationsdaten wie zum Beispiel E-Mail-Adressen ab.
Nina Treue hat die zehn User:innen bei ihren ersten Schritten im neuen Portal begleitet: „Wenn man sagt: Wir haben uns was ausgedacht und wir finden das ganz toll, dann muss man auch dahinterstehen und sagen: Jetzt mache ich das mit euch zusammen.“
Ideen für die Zukunft
Der Erfolg: Die Expert:innen des Raphaelswerks haben nun mehr Zeit für die individuelle inhaltliche Beratung. Und ihr Wissen ist ja ihre eigentliche Kernkompetenz. „Das hat wirklich Spaß gemacht und ich bin irgendwie ganz stolz auf das, was da rausgekommen ist“, sagt Nina Treue. „Wir haben ganz viele Ideen, was wir noch toller und besser machen könnten.“ Dieses Projekt konnte auch dank einer anteiligen Finanzierung durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend umgesetzt werden. Das Team hofft auf weitere Fördermittel. Denn dann könnten vielleicht auch die Folgeberatung digitalisiert oder einige Antworten mit Anbindung an das interne Wissensmanagementsystem automatisiert werden.