
Methoden und Wissen
„Leitwolf frisst Löwenanteil!“
08. August 2018 / Ruediger Schnirring
Der Vorarbeiter schnaufte verärgert und entriss dem Jungen die Schaufel. „Gib her! Es ist doch immer dasselbe. Wenn man will, dass etwas richtig gemacht wird, dann muss man es SELBST machen!“. Dann fing er an, konzentriert und unbeirrt ein exakt quadratisches Loch zu graben, während um ihn herum untätig ein paar Jugendliche standen, einige neugierig, heimlich feixend, manche verträumt, oder – wie im Falle des Jungen – beschämt. Oha, dachte ich, dass ist ja fast wie bei uns im Scrum-Team.
Achtung: Satire!
Leistungsgefälle und Leidensdruck
Wir hatten diesen Merksatz nämlich auch, jedoch mit einer kleinen Anpassung an die Realität: „Wenn man will, dass etwas richtig gemacht wird, dann muss man es Konrad machen lassen!“ Konrad war unser herausragendes Teammitglied. Er konnte alles (!) und das auch noch besser und schneller als jeder von uns, wahrscheinlich doppelt bis dreimal so schnell. Der Merksatz war also tatsächlich ein Leitsatz, für unseren Leitwolf. Merkwürdig, denn als agiles Team sollte man doch keinen haben.
Natürlich hatten wir anfangs noch versucht, genauso wertvoll zu sein wie Konrad oder zumindest irgendwie auch wichtig. Wieso hatten wir das wieder aufgegeben? Wir hatten stets ehrlich unser Bestes gegeben und wurden trotzdem regelmäßig angeraunzt. Unser Bestes war wohl nicht gut genug. Die Resignation kam sicher nicht von unserer mangelnden Kritikfähigkeit. Schließlich waren wir es gewöhnt, unsere Arbeit gegenseitig zu überprüfen, durch Pair Programming, Code Reviews, Unit Tests, Integration Tests usw.
Wir hatten einfach nicht mehr das Gefühl, gemeinsam Qualität zu produzieren, sondern nur noch den Ansprüchen von Konrad hinterher zu hecheln. Diese waren zwar gerechtfertigt und gut fürs Projekt, aber auf die Dauer vergeht einem doch die Lust, wenn einer wie Bayern München ist und die anderen nur ewig im Tabellenkeller rumlungern. Ein paar von uns hatten tatsächlich das Team gewechselt, sie waren absichtlich abgestiegen, um dann in der zweiten Liga endlich ganz oben mitzuspielen. Es tut einfach unglaublich gut, mal an der Spitze zu sein.
Diese Abtrünnigen hatten überraschend berichtet, sie könnten nun nachvollziehen, wie Konrad sich fühle! Das schien mir doch gänzlich unglaubwürdig, bis ich bei einer ganz anderen Gelegenheit dieselbe Erfahrung machte: beim Bäcker. Ich war an jenem Morgen etwas angespannt, weil ich spät dran war, hatte deshalb auf Smalltalk verzichtet und nur meine Bestellung präzise und vollständig durchgegeben: „Ein Käse-Vollkornbrötchen und ein Laugen-Croissant, bitte. Das ist alles.“. Nach dem Eintüten kommt prompt die Rückfrage von der anderen Seite des Tresens: „Sonst noch etwas?“ Und ich antwortete patzig: „Welchen Teil von ‚Das ist alles‘ haben Sie nicht verstanden? Jetzt noch mal für Sie zum mitmeißeln: DAS IST ALLES!“
Im selben Moment schon bereute ich meinen Ausbruch, zahlte hastig und stürmte aus dem Laden. Draußen wurde mit klar: Auweia, ich hatte einen kleinen Konrad in mir! Unter den passenden Umständen kam der heraus und übernahm das Kommando. Außerdem hatte ich einen der fünf Scrum-Werte verletzt: Respekt. Mein Weltbild war erschüttert, ich gehörte doch zu den Guten, aber Gut und Böse waren plötzlich vertauscht. Dieses Erlebnis hatte ich zum Glück niemandem erzählt und es auch schnell wieder verdrängt. Im Projekt hatten wir nämlich einen Weg gefunden, das Böse zu bezwingen.
Unfaire Bewältigungsstrategien
Die hatten sich ganz langsam eingeschlichen. Wenn eine E-Mail-Frage vom Kunden hereinkam ging sie zwar stets an das gesamte Team, aber für uns war das der Startschuss zum Beamten-Mikado. Wer zuerst zugab, dass er die E-Mail gesehen hatte, war der Verlierer. Mit Engelsgeduld ignorierten wir sie, bis sich endlich Konrad die Frage schnappte und flink auf den Punkt beantwortete. Seine Antwort kam schneller, war richtiger und er hatte mehr Weitblick für die Auswirkung seiner Lösung als jeder von uns. Es lohnte sich wirklich nicht, auf eigene Faust nach Antworten zu suchen. Konrad präsentierte uns jedes Mal notwendige Verbesserungen oder entdeckte schlimme Fehler, die so auf keinen Fall raus durften. Dann konnte er es doch gleich selber machen, das war ja sowieso sein Credo und unseres auch, siehe oben.

Mit der Zeit überließen wir Konrad auch noch die technischen Themen, denn er hatte den nötigen Ehrgeiz und die Erfolgszuversicht, sich diese anzueignen. Konrad war unser Bahnbrecher für neue Technologien und dabei standen wir alle um ihn herum, einige neugierig, heimlich feixend, manche verträumt.
Wenn Konrad im Estimation-Meeting behauptete, die Story sei simpel oder eben doch komplex, dann war das Gesetz. Manchmal reichten auch kleine Andeutungen von ihm, seine angehobene Augenbrauen oder ein Seufzen während der Besprechung. Dann passten wir unsere Schätzungen an, wortlos und ganz ohne Blickkontakt. Wir waren zu einer Schwarmintelligenz geworden. Wir waren sein Schwarm, leider ohne, dass er von uns schwärmte. Tja, warum sollte er auch.
Überraschend kreativ wurden wir beim Umleiten des Aktivitäten-Stroms („activity stream“) in seine Richtung. Einige Spaßvögel hatten tatsächlich ihre Telefone umgeleitet: bei eingehenden Anrufen klingelte es dann bei Konrad und er ging sofort ran. Das war vielleicht etwas übertrieben, aber wir verschafften ihm damit das Gefühl, gebraucht zu werden, wichtig zu sein, der Beste zu sein. Er hätte uns eigentlich dankbar sein müssen, bei dem was wir alles für ihn taten. Er durfte doch Bayern München sein. Na gut, manche wollen das nicht.
Der Kragen platzt
Mit der Zeit wurde der Druck auf Konrad natürlich größer und größer. Er musste all diese Aufgaben bewältigen, die er an sich gezogen, der Kunde ihm zugewiesen oder wir ihm zugeschanzt hatten. Von außen sah es so aus, als würden ihn die Aufgaben wie kleine, hungrige Lebewesen förmlich anspringen, damit er sich um sie kümmere. Er wurde von Aufgaben übervölkert und lebte folglich in einem ständigen Überdruck.
Das war nun auch für uns nicht mehr so schön. Wir konnten Konrad nicht mehr gefahrlos etwas fragen. Solche Unterbrechungen hätten seine Produktivität verringert und damit den Projekterfolg gefährdet. Dagegen war Konrad allergisch und wir respektierten das. In der Folge zogen wir uns noch mehr zurück. Konrad und das Projekt: die beiden waren einfach ein gutes Paar. Wir störten da nur. Irgendwann war es dann soweit: Konrad explodierte und es schien, als wäre die ganze Sache aufgeflogen.
Bei der klärenden Retrospektive hatte er einen langen, heftigen Schreianfall. Diese Standpauke war wirklich überfällig und komplett berechtigt. Wir fühlten uns wie desinteressierte, begriffsstutzige Jugendliche vor einem strengen Herbergsvater, der die Geduld mit uns verloren hatte. Das machte uns traurig und wir hatten danach starke Schuldgefühle, wollten schnellstmöglich alles wieder gut machen! Das klappte sogar einige Zeit und unser neu aufflammender Ehrgeiz machte uns mutig. Soweit so gut, doch am enormen Leistungsgefälle hatte sich ja nichts geändert. Dieser Frust blieb uns erhalten.
Falsche Entwarnung
Eines Tages fiel uns überraschend eine Lösung in die Hände: Die Pareto Verteilung! Die Leistungsverteilung innerhalb einer Gruppe folgt einer gnadenlosen statistischen Regel: 20% der Leute machen 80% der Arbeit, grob geschätzt. Ist doch logisch: wer viel kann und tut wird immer mehr gefordert und wächst dabei über sich hinaus. Die anderen werden immer weniger gefragt und bleiben stehen. In unserem Team waren wir neun Leute, d.h. es waren tatsächlich nur einer oder zwei von uns, welche den Löwenanteil erledigten. Für uns restliche, nicht glorreiche Sieben war das die befreiende Rechtfertigung, endlich ohne schlechtes Gewissen weiter zu wurschteln. Wir fielen zurück in alte Muster und machten unseren Frieden mit einer unabänderlichen Situation. Das ist doch ein Zeichen von Weisheit, wenn man solche Umstände treffsicher erkennt. Das hätte nun ewig so weitergehen können, dachten wir. Tatsächlich waren das nur die letzten Zuckungen der Beharrungskräfte des alten Status quo.
Kindererziehung
Es kam der Tag, an dem unser Team von einem gewaltigen Umbruch erschüttert wurde. Konrad hatte Kinder bekommen! Und gewissenhaft wie er war, hatte er sich dazu in die neusten Erziehungstechnologien eingearbeitet und probierte sie an uns aus. Meistens musste er dazu einfach nur das Wort „Kinder“ durch „Kollegen“ ersetzen:
„Was man Kollegen beibringt, können sie nicht mehr selbst entdecken“ (frei nach Jean Piaget).
Wir hatten uns schon gewundert, warum Konrad uns nicht mehr alles komplett erklärte, sondern nur noch ermutigende Anstöße zum Selberforschen gab. Jener Satz klebte gut sichtbar an seinem Bildschirm. In der Tat, von Konrad hatten wir viel gelernt, mehr als von uns selbst. Das sollte sich nun ändern. Wir sollten eben nicht kampflos kapitulieren vor Paretos ungerechtem Naturphänomen.
Erstaunlicherweise wurde Konrad nun nachsichtig mit unseren Fehlern und Wissenslücken. Wir waren bisher anderes gewöhnt, da fiel uns das Umdenken wirklich schwer. Konrad beherzigte neuerdings folgenden pädagogischen Merksatz:
„Kollegen brauchen Liebe, besonders wenn sie sie nicht verdienen“ (frei nach Henry David Thoreau).
Das wurde dann auch mein Leitspruch für meine Bäckereibesuche.
All das waren wirklich schöne Verbesserungen, jedoch sollte die eigentliche Disruption erst noch kommen.
Dein Nichtstun ist mein Vorteil

Es geschah an einem Tag, an dem Konrad zum Nichtstun verdammt war, weil es mit seinem Laptop technische Probleme gab (für die er nichts konnte). Zum Glück waren wir gerade am Anfang des Sprints und es schien, als würden wir diesen locker schaffen. Deshalb war auch Konrad entspannt und gut gelaunt. Für uns bedeutete das: endlich konnten wir alle unsere aufgestauten Fragen abfeuern! Konrad arbeitete uns gewissenhaft der Reihe nach ab und bestäubte uns mit Wissen und Mut, so dass wir plötzlich ganz schnell vorankamen.
Am Ende dieses Tages hatte dann Konrad keinen einzigen Story-Point geschafft, aber wir als Team gemeinsam mehr als jemals zuvor! Der Laptop von Konrad blieb zum Glück auch die nächsten 3 Tage noch außer Betrieb, so dass wir unsere neue Sprint-Beschleunigung fortsetzen konnten. Beim Daily Scrum Meeting sprachen wir darüber und machten uns diese neue Ära bewusst. Wir waren alle wie elektrisiert, fühlten uns mutig, wirksam und voller Tatendurst. Wir hatten endlich aufgehört, uns mit Konrad zu vergleichen, weil Konrad jetzt nicht mehr vorauseilte, sondern auf gleicher Höhe blieb und uns unterstützte. Man soll sich ja sowieso nicht mit anderen vergleichen, sondern nur mit sich selbst, so wie man gestern war. Und da konnten wir endlich gewinnen: wir waren heute besser als gestern.
Für Konrad gab es natürlich einen Produktivitätsverlust durch den häufigen Context Switch, wenn er uns abwechselnd zu Hilfe kam. Das war jedoch nicht das Hauptproblem für ihn.
Dein Erfolg ist meiner
Konrad musste umdenken. Seine Erfolgserlebnisse sollten nun nicht mehr aus dem Lösen vieler komplexer Probleme hervorgehen, sondern aus der Ermutigung des Teams und der bewirkten Beschleunigung. Darin bestand nun die neue, individuelle Eigenleistung von Konrad und diese war wesentlich wirksamer, als nur ein atemberaubend schneller Entwickler zu sein.
Das ist bis heute immer noch so. Natürlich schnappt Konrad sich ab und zu eine schwierige Story, um im Training zu bleiben. Vorrangig bleibt jedoch der Auftrieb für das Team. Wir alle sind nun viel entspannter und gesünder geworden und Konrad ganz besonders. Er kann tatsächlich mal um 17 Uhr Feierabend machen, guten Gewissens mit seiner Familie in den Urlaub fahren, auf einer Fortbildung sein oder auch mal krank. Er weiß ja jetzt, das packen wir auch alleine.
An manchen Tagen sitzt Konrad nun mit geschlossenen Augen einfach nur da, atmet, lächelt wie ein Buddha und empfindet den Teamerfolg als seinen eigenen. Also da übertreibt er ein bisschen, finde ich. Inzwischen fragen auch anderer Teams und Kunden nach seinen Diensten. Irgendwann werden wir wohl ohne ihn auskommen müssen, ich hätte nie gedacht, dass ich das mal bedauern würde. Unser Kunde ist natürlich überglücklich mit dieser neuen Entwicklung, denn er hat jetzt viele gute Ansprechpartner/innen anstatt nur einen. Zusätzlich hat sich unsere Velocity fast verdoppelt. Nun müsste sich nur noch mein Gehalt verdoppeln, aber dieses Team-Glück ist doch wirklich unbezahlbar, oder?
© Rüdiger Schnirring